22 December 2022
Deutschlandfunk Kultur, Deutschlandradio (Germany)
Wer außerhalb Londons auf Busse in Großbritannien angewiesen ist, verzweifelt oft: überteuerte Tickets, schlechte Anbindungen und selten pünktlich. Als Ursache gilt die Privatisierung unter Thatcher. Ein politisches Musical fordert den Neustart.
Ellie Harrison begrüßt das Publikum, etwa 80 Leute sitzen gespannt im Zentrum für zeitgenössische Kunst in Glasgow, um das wohl erste Bus-Musical im Vereinigten Königreich zu sehen.
“Busse sind so wichtig. Sie sind wie Adern, die alle in unsere Gesellschaft miteinander verbinden. ‚Bus Regulation: Das Musical‘ ist inspiriert von Andrew Lloyd Webbers ‚Starlight Express‘, aber statt Zügen erzählen hier Busse die Geschichte des öffentlichen Nahverkehrs. Anfangen nach dem Krieg bis hin zur Gegenwart und Zukunft“, erzählt Harrison.
Genauer gesagt, geht es um die Regulierung des britischen Bus-Systems. Hört sich erst einmal schräg an, doch die Geschichte hinter den vielen Rollschuh-Tänzerinnen und Tänzern mit den bunten Umhängen, die hier über die Bühne und durch die Zuschauer-Reihen flitzen, hat es in sich.
Das Bus-System ist in Glasgow, wie quasi überall in Großbritannien mit der Ausnahme Londons, ziemlich schlecht. Unterschiedliche private Firmen sind unterwegs und konkurrieren um die beliebtesten Routen. Ein gemeinsames Ticket sucht man vergeblich, die Preise steigen immer weiter, und oftmals kommt der Bus einfach gar nicht, wie ich selbst mehrfach erlebt habe. Seit gut vier Monaten lebe ich nun in Glasgow, der größten Stadt Schottlands und der öffentliche Nahverkehr stellt mich hier immer wieder vor Rätsel.
Verbundener ÖPNV nur in London
Künstlerin Ellie Harrison kennt das Gefühl. “Als jemand, die in London aufgewachsen ist und während der gesamten Teenager-Zeit Zugang zu einem verbunden ÖPNV-System hatte, war es einfach nur ein Schock, dass eine Stadt in der Größe wie Glasgow so etwas nicht besitzt“, sagt sie.
Ich weiß noch genau, wie verwundert ich war, als ich damals am Hauptbahnhof in Glasgow ankam und mir ein Tagesticket für die Öffis kaufen wollte. Ich musste zu meiner Unterkunft kommen, wollte ein bisschen Sightseeing machen, abends etwas essen gehen. Dafür war ich natürlich auf Bahn, Bus und die Subway angewiesen.
Doch die Dame am Schalter brauchte mehrere Minuten, um mir zu erklären, dass es so etwas wie ein Tagesticket für alle Verkehrsmittel hier nicht gibt. Also musste ich drei Tickets kaufen – für jedes Verkehrsmittel eines.
“Eine klassische Busfahrt in Glasgow ist teuer“, meint auch Ellie Harrison. „Ungefähr 2,60 Pfund, also fast ein Pfund mehr als in London. Dann kommt es noch drauf an, wo du wohnst: Wo es viele lohnenswerte Busstrecken gibt, kommen zu Spitzenzeiten auch mehrere Busse, wo anders hast du Glück, wenn es überhaupt eine Route gibt. Vor allem am Abend und am Wochenende wird es unregelmäßig. Wirklich darauf verlassen kann man sich auch nicht.”
Ellie Harrison lebt seit 2008 in Glasgow – abseits der Londoner Postkarten-Idylle mit roten Doppeldecker-Bussen wurde die heute 43-Jährige zur Aktivistin für die Wiederverstaatlichung des Öffentlichen-Personen-Nahverkehrs auf der Insel.
Busprivatisierung mittels „Transport Act“ 1985
Dass gerade das Bus-System außerhalb von London so bescheiden funktioniert, hat in den 1980er-Jahren begonnen. In Großbritannien waren die konservativen Tories an der Macht und an ihrer Spitze Margaret Thatcher, Ikone des Neoliberalismus und Verfechterin einer marktliberalen Politik. Unter ihr wurde alles privatisiert und dereguliert, was nur ging. 1985 mit dem „Transport Act“ dann auch das öffentliche Bus-System – mit Ausnahme von London.
“Es war ein absolutes Chaos“, so Bassam Khawaja. „Jeder konnte eine Bus-Firma aufmachen. Es gab keine Regeln und keine Anforderungen, keine Strecken, die abgedeckt werden mussten. Deswegen kämpft nun jeder um die profitablen Strecken und niemand will die Routen abdecken, die sich nicht lohnen.”
Der Wissenschaftler arbeitet normalerweise an der Columbia Law School in New York zu Menschenrechten in verschiedenen Ländern. Doch als er vor ein paar Jahren zusammen mit dem ehemaligen UN-Sonderberichterstatter für Armut und Menschenrechte, Philip Alston, nach Großbritannien kommt, stellen sie fest: Auch hier gibt es ein riesiges Problem. “Wir waren ziemlich überrascht, da Großbritannien eines der reichsten Länder der Welt ist, aber trotzdem hat uns fast jeder erzählt, dass es dieses Problem mit dem öffentlichen Nahverkehr gibt, dass man es mit einem geringem Einkommen viel schwerer hat, sich fortzubewegen. Egal ob zur Arbeit, zum Krankenhaus, die Kinder zur Schule zu bringen oder in die Bücherei, alles hängt an diesem Problem mit der Privatisierung des Bus-Systems.“
Durch die Privatisierung wollte die Regierung um Margaret Thatcher Kosten senken und gleichzeitig die Zahl der Menschen erhöhen, die den öffentlichen Nahverkehr nutzt. Eingetreten ist das Gegenteil: Seit den 80er-Jahren sind die Preise für die Tickets um 400 Prozent gestiegen und die Zahl derer, die das Angebot nutzen, ist in England außerhalb von Londons um 38 Prozent zurückgegangen, in Schottland sogar um 43 Prozent laut dem Verkehrsministerium.
Für den Wissenschaftler Bassam Khawaja ist es ein „Desaster aus allen Blickwinkeln“ und eine „Meisterklasse darin, wie man einen öffentlichen Service nicht betreibt“.
Frust bei den Busfahrenden
Die Kostenreduzierung für den Staat hat ebenso wenig funktioniert. Bis heute unterstützt der Staat die Bus-Anbieter mit Subventionen in Milliardenhöhe. Auch während der Coronapandemie musste der Steuerzahler für die Einbrüche aufkommen. In guten Zeiten investieren die Anbieter die Gewinne aber nicht zurück ins System, sondern schütten sie als Dividenden aus.
Das Ergebnis ist Unzufriedenheit an der Haltestelle bei Menschen wie hier in Glasgow, die darauf angewiesen sind:
“Ich habe keine andere Möglichkeit, mich fortzubewegen. Also warte ich, oder lasse völlig überfüllte Busse vorbeifahren. Gerade abends, nach der Arbeit, vor allem hier in Schottland, wo es echt kalt ist.”
“An manchen Tageszeiten ist das Pendeln echt teuer! Selbst ein Bus in die Stadt ist teurer als anderswo.”
“Die Busverbindung ist okay, aber man muss Jahre warten.”
“Es ist okay, aber sie haben so viele Fahrer verloren, weil die zurück nach Hause nach Europa gegangen sind oder jetzt LKW fahren, weil es besser bezahlt wird. Oder sie haben gleich ganz aufgehört, weil sie erschöpft sind. Schaue einfach auf die Anzeige – es sind so viele Verbindungen gestrichen, das nervt.”
Doch ein Bus-System in diesem Zustand ist nicht nur nervig, sondern schließt vor allem große Teile der Bevölkerung aus, sagt John McKendrick. Er ist hier groß geworden und beschäftigt sich inzwischen als Professor an der Glasgow Caledonian University mit Armut und sozialer Ungleichheit in Schottland. “Es gibt viele Leute, die nicht weit weg vom Stadtzentrum wohnen, aber es schwierig finden, reinzukommen. Das bedeutet für sie mehr Kosten und sie haben weniger das Gefühl, Teil der Stadt zu sein. Die Stadt, die ich liebe und die viele Besucher lieben, ist nicht die gleiche Stadt, die viele Einwohner hier erleben.”
Beim Klimagipfel funktionierte der ÖPNV
Besonders drastisch zeigte sich diese Ungleichheit im vergangenen Jahr beim Weltklimagipfel COP26 in Glasgow. Martha Bytof war damals als Klimaaktivistin jeden Tag auf Demonstrationen dabei und erinnert sich noch gut an die Zeit. Alle Leute, die mit dem Klimagipfel zu tun hatten, hätten eine kostenlose Karte ähnlich der Oystercard aus London bekommen. Damit hatten sie kostenlosen öffentlichen Nahverkehr in Bussen, Zügen und der U-Bahn. „Genau dafür gibt es hier seit zehn Jahren Kampagnen, damit die Einwohner das bekommen. Aber das sei nicht möglich, und beim Klimagipfel, den die britische Regierung veranstaltet und nicht die Schottische, da ging es dann sofort.”
Doch die Glasgow-Oystercard, also die einheitliche Karte nach dem Londoner Vorbild, für die Aktivisten hier schon so lange kämpfen, ist nach dem Klimagipfel wieder in der Schublade verschwunden.
Wirklich was geändert hat sich in Glasgow nicht. Martha Bytof spricht von Greenwashing und einem Event, das der britischen Regierung dazu gedient hat, das Image und den Wandel von Glasgow als ehemaliger Industriestandort zur grünen Stadt darzustellen. “Als Einwohnerin und als Klimaaktivistin ist es einfach enttäuschend und fürchterlich traurig.”
Manchester will Busverkehr wieder regulieren
Doch die Künstlerin Ellie Harrison will trotz des politischen Stillstands nicht aufgeben, ganz im Gegenteil. Denn in Manchester, wo sie ihr Bus-Musical 2019 uraufgeführt hat, gibt es zum ersten Mal seit der Privatisierung und Deregulierung in den 1980er-Jahren eine Entwicklung in die andere Richtung: “Die erste Region in Großbritannien, die ihre Busse wieder selbst regulieren will, ist der Großraum Manchester“, erzählt sie. „Der Bürgermeister Andy Burnham hat dem 2021 zugestimmt. Es ist natürlich ein langwieriger Prozess, weil man den ganzen Schaden der letzten 35 Jahre wieder rückgängig machen muss. Aber es wird bis 2025 fertig werden.”
Die Busse bleiben werden in privater Hand bleiben, aber die Stadt kann über Routen und Preise bestimmen. Damit soll der ÖPNV in Manchester einfacher, zuverlässiger und günstiger werden. Diesen Spirit wollen die Aktivist:innen nun auf den Rest des Landes übertragen. In Liverpool gibt es auch erste Überlegungen in die Richtung, beflügelt von einer dritten Version von „Bus Regulation: The Musical“.